19. September 2024

Wenn man Schmerzen braucht, um sich zu fühlen

Psychologische Perspektive

Das Bedürfnis, Schmerz zu erfahren, um sich lebendig zu fühlen, ist ein komplexes psychologisches Phänomen, das oft in einem größeren Spektrum von Verhaltensweisen und psychischen Zuständen angesiedelt ist. In der Psychologie wird dieses Verhalten oft mit verschiedenen Störungen und emotionalen Zuständen in Verbindung gebracht, wie z.B. Borderline-Persönlichkeitsstörung, Depressionen oder posttraumatische Belastungsstörung. Menschen, die sich selbst verletzen, um Schmerz zu erfahren, berichten häufig von einem tiefen Gefühl der Leere, emotionaler Taubheit oder einer überwältigenden inneren Spannung, die durch körperlichen Schmerz gemildert werden kann.

Der Prozess des Selbstverletzens kann als ein Bewältigungsmechanismus verstanden werden. Der körperliche Schmerz kann helfen, intensive emotionale Schmerzen zu regulieren oder zu unterdrücken. Endorphine, die während der Verletzung freigesetzt werden, können kurzfristig eine Art “High” erzeugen und so als eine Form der Selbstmedikation dienen. Langfristig kann dieses Verhalten jedoch zu einer Abhängigkeit führen, bei der die Person immer häufiger auf Schmerzen zurückgreifen muss, um emotionale Stabilität zu finden.

Sicht der handelnden Person

Für die betroffene Person ist der Schmerz oft eine Möglichkeit, Kontrolle über ein sonst unerträglich chaotisches inneres Erleben zu erlangen. Viele berichten, dass der Schmerz sie zurück in den gegenwärtigen Moment holt, sie aus einem Zustand der Dissoziation herausreißt oder sie schlichtweg spüren lässt, dass sie noch am Leben sind. In einer Welt, die sich taub und sinnlos anfühlt, kann der Schmerz als ein klares, greifbares Gefühl paradoxerweise Trost spenden.

Selbstverletzendes Verhalten kann auch als ein stiller Hilferuf verstanden werden. Viele Menschen fühlen sich durch ihren Schmerz nicht gesehen oder gehört und nutzen den körperlichen Schmerz, um ihre innere Qual zu kommunizieren. Dieser Schmerz wird zum sichtbaren Zeichen eines unsichtbaren Leidens, ein verzweifelter Versuch, von ihrer Umwelt erkannt und verstanden zu werden.

Gesellschaftliche Perspektive und deren Entwicklung

Die gesellschaftliche Entwicklung spielt eine erhebliche Rolle bei der Zunahme von Menschen, die zu solchen Verhaltensweisen greifen. In den letzten Jahrzehnten hat sich unsere Gesellschaft in vielerlei Hinsicht verändert, und nicht alle Entwicklungen haben positive Auswirkungen auf das individuelle Wohlbefinden.

Beschleunigte Lebensweise und soziale Isolation

Die moderne Gesellschaft ist geprägt von einer stetig zunehmenden Geschwindigkeit und Effizienz. Dies führt zu einem enormen Druck auf das Individuum, immer produktiver und leistungsfähiger zu sein. Diese ständige Anspannung kann dazu führen, dass Menschen sich entfremdet und emotional ausgelaugt fühlen. Gleichzeitig hat die Digitalisierung zu einer paradoxen Isolation geführt: Obwohl Menschen über soziale Medien ständig miteinander verbunden sind, fehlt oft die tiefe, emotionale Bindung, die für ein gesundes psychisches Wohlbefinden notwendig ist.

Perfektionsdruck und Schönheitsideale

Die allgegenwärtigen Medien vermitteln oft unerreichbare Schönheits- und Erfolgsstandards, was den Druck auf das Individuum weiter erhöht. Diese unerbittlichen Standards können zu einem tiefen Gefühl der Unzulänglichkeit und Minderwertigkeit führen. Der daraus resultierende Stress und die Angst, den gesellschaftlichen Erwartungen nicht gerecht zu werden, können ebenfalls zu selbstschädigendem Verhalten beitragen.

Tabuisierung psychischer Probleme

Trotz einer zunehmenden Offenheit für psychische Gesundheitsprobleme bleibt das Thema in vielen Gesellschaften immer noch tabuisiert. Menschen, die unter emotionalem Schmerz leiden, fühlen sich oft stigmatisiert und isoliert, was sie daran hindert, Hilfe zu suchen und ihre Gefühle offen zu kommunizieren. Das Fehlen eines unterstützenden sozialen Umfelds kann dazu führen, dass diese Menschen keinen anderen Ausweg sehen, als ihren Schmerz durch selbstverletzendes Verhalten auszudrücken.

Warum die Gesellschaft die Schuld trägt

Die genannten gesellschaftlichen Entwicklungen tragen maßgeblich dazu bei, dass immer mehr Menschen zu diesen Verhaltensweisen greifen. Der immense Druck, sich ständig zu beweisen und den gesellschaftlichen Erwartungen zu entsprechen, führt dazu, dass viele Menschen unter chronischem Stress und emotionaler Erschöpfung leiden. Die Fragmentierung sozialer Netzwerke und die oberflächliche Natur vieler digitaler Interaktionen lassen Menschen isoliert zurück, was die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass sie zu extremen Methoden greifen, um ihren inneren Schmerz zu bewältigen.

Darüber hinaus fördert die gesellschaftliche Tabuisierung psychischer Probleme eine Kultur des Schweigens und der Scham. Anstatt offen über ihre Gefühle sprechen zu können und Unterstützung zu erhalten, fühlen sich viele Menschen gezwungen, ihren Schmerz im Verborgenen zu bewältigen. Dies kann dazu führen, dass selbstschädigendes Verhalten als eine der wenigen verbleibenden Methoden erscheint, um mit überwältigenden Gefühlen umzugehen.

Schlussfolgerung

Das Bedürfnis, Schmerz zu erfahren, um sich lebendig zu fühlen, ist ein vielschichtiges Phänomen, das tief in den individuellen psychologischen Zuständen und den gesellschaftlichen Strukturen verwurzelt ist. Während es auf der persönlichen Ebene oft als Bewältigungsmechanismus dient, reflektiert es auf gesellschaftlicher Ebene die Versäumnisse und Herausforderungen unserer Zeit. Um dieser Entwicklung entgegenzuwirken, ist es unerlässlich, sowohl die individuellen als auch die kollektiven Faktoren zu adressieren, die zu diesem Verhalten führen. Nur durch ein tieferes Verständnis und eine umfassende Unterstützung können wir hoffen, diesen Teufelskreis zu durchbrechen und den Betroffenen einen Weg zu bieten, ihren Schmerz anders zu bewältigen.